Wir sind alle gestört!
Gedanken über Stigmatisierung, Enttabuisierung
und die Rethorik psychischer Erkrankungen.
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Wenn wir uns ein Bein brechen oder einen viralen Infekt haben, sehen wir in der Regel kein großes Problem darin, jemandem davon zu erzählen. Aber über eine Angststörung, eine depressive Störung, eine Essstörung oder sonstige Erkrankungen zu sprechen, die schon mit einem Wort vermitteln, gestört zu sein, ist ungleich schwerer.
Wo beginnt Stigmatisierung? Und was verstehen wir darunter?
Geht es nach dem kanadischen Soziologen
Ervin Goffman, ist das Stigma ein Beispiel für die Kluft zwischen der
virtuellen
sozialen Identität einer Person und ihrer
wirklichen
sozialen Identität (1). Die virtuelle soziale Identität entspricht hierbei Eigenschaften, die einer Person zwar zugeschrieben werden, aber nicht zwangsläufig nachgewiesen werden können. So wird beispielsweise Menschen, die längerfristig Arbeitslosengeld beziehen, nachgesagt, nicht arbeiten zu wollen und faul zu sein. Der Bezug von Hartz IV/ALG II ist somit ein Stigma oder anders gesagt eine Markierung, die uns darauf aufmerksam macht, dass die betroffene Person scheinbar nicht der (gesellschaftlichen) Erwartung entspricht.
Eine Stigmatisierung kommt also einem Vorurteil gleich und betrifft klassischer Weise Menschen die, eine Vorstrafe besitzen, von Obdachlosigkeit betroffen sind, eine Behinderung haben, einer bestimmten Nationalität oder Religion angehören, eine bestimmte sexuelle Orientierung oder eben eine psychische "Störung" haben.
Stigmatisierung beginnt unweigerlich da, wo Worte benutzt werden, um betroffene Menschen zu beschreiben (2). Unserer Sprachgebrauch kennt unzählige dieser Worte, die eine wertende Konnotation besitzen.
Den "Junkie" zum Beispiel, hinter dem sich in Wirklichkeit ein Mensch mit einer "substanzgebunden Abhängigkeit" verbirgt, die im Falle von Opioiden bzw. Opiaten (Heroin, Morphium, Hydromorphon, Oxycodon, Fentanyl, Codein, etc.), nicht selten mit traumatischen Kindheitserfahrungen verbunden ist (3). Oder den "Alki", den wir auch einen "Menschen, mit Alkoholabhängigkeit" nennen könnten. Wohinter sich so oder so in der Regel das Vorurteil versteckt, dass es sich um einen schwachen Menschen handelt.
Dass Menschen, deren Krankengeschichte eine psychiatrische Diagnose aufweist, selbst im medizinischen Umfeld anders behandelt werden, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr (4). Anders meint nicht besser, sondern eher schlechter. Und das rein auf Basis einer verschriftlichten Zustandsbeschreibung. Einer Diagnose. Kein Wunder also, wenn wir lieber erst gar keine bekommen. Und wenn, dann eine, die irgendwie vermittelt, dass wir keine "Schwächlinge" sind. Ein "Burn-Out" zum Beispiel. Denn schließlich mussten wir dafür erstmal brennen, um dann auszubrennen. Oder wie wäre es mit einer "akuten Belastungsreaktion"? Damit müsste anderen Menschen doch klar sein, dass wir einer schweren Belastung ausgesetzt sind oder waren. Eine "depressive Episode" klingt ja zumindest noch wie etwas, dass wieder vorbei geht. Aber eine "chronische depressive Störung"? Eine "Persönlichkeitsstörung"? Eine "Schizophrenie"?
Was tun gegen Stigmatisierung und Vorurteile?
Glücklicher Weise gibt es einige Menschen, die sich schon vor uns Gedanken darüber gemacht haben. Mit dem Resultat, dass es Wege gibt, um sich für die Enttabuisierung der oben genannten Begrifflichkeiten einzusetzen (5). Auch wenn sich gezeigt hat, dass einzelne Maßnahmen wie groß angelegte Aufklärungskampagnen oder das bewusste Herbeiführen von sozialen Kontakten mit betroffenen Menschen bisher eher wenig zur Reduktion von Stigmatisierung beigetragen haben. Ein Negativbeispiel ist die Folge eine Aufklärungskampagne über Schizophrenie, die dazu geführt hat, dass Arbeitgeber:innen Betroffene noch seltener eingestellt haben, nachdem sie mehr über die Erkrankung wussten (6).
Wie so oft scheint es also die Kombination mehrer Bausteine zu sein, die nach und nach in Teilen der Gesellschaft ein Umdenken anzustoßen vermag.
Kombination verschiedener Strategien statt groß angelegter Einzelmaßnahmen
Folgend finden sich einige Ansätze und Überlegungen für das Engagement im "Starkmachen" für die Enttabuisierung von Themenbereichen, die im Alltag mit Stigmata verbunden sind
- Sich selbst und andere bilden
Sich in einem Themenbereich fundiert zu bilden schafft Sicherheit und gibt uns die Möglichkeit, das Wissen mit anderen Menschen zu teilen. Vorurteile werden in Gesprächen häufig mit "falschen" Fakten untermauert. Hier kann es helfen mit dem entsprechenden Hintergrundwissen entkräftende Argumente zu finden.
- Arbeit an der eigenen Haltung bzw. Sichtweise
Es kann helfen, sich als Grundstein eine klare Haltung gegenüber gewissen Themenbereichen zu erarbeiten. Zum einen gelingt es so leichter sich in Gesprächen zu positionieren, andererseits ist es ein guter Start, um sich mit einem Thema eingehender zu beschäftigen.
Hier als Beispiel eine mögliche Sichtweise im Bezug auf die Unterschiedlichkeit der Menschen, ihre jeweiligen Bedürfnisse und das Verständnis von kranken und gesunden Anteilen. Bei dem folgenden Text handelt es ich ausdrücklich um "eine" Sichtweise und nicht um "die" Sichtweise.
Unsere Gesellschaft lebt unausweichlich von der Vielfältigkeit. Diese erkenne ich mit allen Konsequenzen an und versuche jedem Menschen seinen Platz in unserer Gesellschaft zu gewähren. Dabei gehe ich davon aus, dass jeder Mensch eine Geschichte hat, die ihn in seinem Leben mit individuellen Herausforderungen konfrontiert. Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen haben wir alle - in einem unterschiedlichen Ausmaß - gesunde bzw. hilfreiche Anteile, auf die wir zurückgreifen können. Ebenso sind wir dabei mit weniger hilfreichen bzw. "kranken" Anteile konfrontiert. Es gibt Lebenssituationen in denen die gesunden Anteile überwiegen und solche, in denen es die Kranken tun. Kein Mensch ist also in der Regel nur krank bzw. "gestört" oder nur gesund. Wir alle besitzen das Potential an irgendeinem Punkt unseres Lebens krank zu werden und in viel Fällen erholen wir uns davon, weil unsere gesunden Anteile wieder die Oberhand gewinnen.
Wenn es ein Mensch aus eigenem Antrieb nicht schafft, die gesunden Anteile seines Körpers (wozu ich die Seele/Psyche zähle) in der Überzahl zu halten, so ist die Inanspruchnahme von Hilfe durch einen oder mehrere Menschen, deren gesunde Anteile in Summe überwiegen, naheliegend. Sei es durch eigene Initiative oder durch äußere Einflüsse. Jeder Mensch, der Hilfe in Anspruch nimmt, hat einen Schritt geschafft, den ich als "stark" ansehe. Sich seiner Hilfsbedürftigkeit bewusst zu werden ist nicht selten ein schambesetztes Thema. Deswegen haben Menschen, die sich ihren Herausforderungen stellen, in meinen Augen per se eine Vorbildfunktion in unserer Gesellschaft. Das wiederum heisst im Umkehrschluss nicht, dass Menschen, die aus verschiedensten Gründen keine Hilfe in Anspruch nehmen können, "schwach" oder weniger wertvoll sind. Im Gegenteil habe ich großen Respekt vor Menschen, die es "aushalten", sich den Anforderungen belastender Lebensmomente anfangs alleine entgegen zu stellen.
- Achtsamer Umgang mit Sprache
Sprache bildet einen sehr großen Bestandteil unseres sozialen Zusammenlebens. Viele Worte benutzen wir ohne uns der wertenden Konnotation direkt bewusst zu sein. Wir bezeichnen Menschen zum Beispiel als "asozial", "behindert", als "voll psycho", "schizophren" oder ähnlich.
Für den Anfang lohnt sich ein achtsamer Umgang mit dem eigenen Wortschatz. Auf Alternativvorschläge in Kombination mit der Erklärung, wieso die Benutzung von "Psychovokabukar" zur Beschreibung von Menschen bzw. Situationen problematisch sein könnte, reagieren meiner Erfahrung nach die Wenigsten mit Abneigung.
- Stimme ergreifen, Stigmatisierung und Diskrimierung benennen
Wenn immer es die Situation hergibt, lohnt es sich das eigenen Schaffens- und Lebensumfeld auf stigmatisierende Momente hin abzusuchen und auf diese im Rahmen der Möglichkeiten hinzuweisen bzw. einzugehen. Speziell wenn wir erleben, wie Betroffene ausgegrenzt werden. Oft sind es vermeintlich "kleine" Dinge, die hier einen Unterschied machen können.
- Die eigene mentale Verfassung offen kommunizieren
Wenn wir uns wünschen, dass in der Gesellschaft offener mit dem Thema "Psyche" umgegangen wird, kann es helfen, bei sich selbst den Anfang zu machen und die eigene mentale Verfassung in Gesprächen häufiger zu kommunizieren bzw. zu einem "normalen" Gesprächsthema zu erheben. Oft flüchten wir uns in Smalltalk, weil wir Hemmung haben über "tiefere" Themen zu sprechen. Häufig fällt das unseren Gesprächspartner:innen leichter, wenn wir eigene Erfahrungen selbstverständlich und ehrlich offenbaren.
- Kontakt zu Betroffenen suchen
Der Alltag bietet uns häufig Möglichkeiten mit von Stigmatisierung betroffenen Menschen in Kontakt zu treten und Berührungsängste abzubauen. Aktiv ein Gespräch mit einem Menschen, der von Obdachlosigkeit betroffen ist, zu suchen ist eine von vielen. Hier lautet das Motto: Raus aus der Komfortzone!
Schon alleine das Interesse an einer anderen Person hat einen Anteil daran, diesem Menschen zu vermitteln, dass er Teil unserer Gesellschaft ist. Keine Beachtung zu finden bzw. nicht gesehen zu werden, ist für uns alle eine schmerzvolle Erfahrung.
Neben den oben genannten Methoden, die vor allem das individuelle Engagement betreffen, haben sich auch groß angelegte Kampagnen bisher als durchaus wirkungsvoll erwiesen (6). Vorausgesetzt, bestehende Strukturen bzw. lokale Gruppen als Repräsentanz verschiedenster Betroffener wurden eingebunden und langfristig gefördert.
Anfangen ist die beste Methode
Was nun die beste Methode ist, um Stigmatisierung entgegen zu wirken, bleibt also offen beziehungsweise der Inhalt weiterer Forschung. Nichtsdestotrotz bleibt es ein Thema, das uns alle angeht und wir auch im Kleinen die Möglichkeit haben, den Anfang und Unterschied zu machen.
Schreibt uns gerne zu euren Erfahrungen mit dem Thema
hier.
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1: „Stigma“. In: Wolfgang J. Koschnik: Standardwörterbuch für die Sozialwissenschaften. Band 2, München London New York Paris 1993, ISBN 3-598-11080-4
2: Ending Discrimination Against People with Mental and Substance Use Disorders: The Evidence for Stigma Change. Washington (DC): National Academies Press (US); 2016 Aug 3. 4, Approaches to Reducing Stigma. Available from: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK384914/
3: Dydyk AM, Jain NK, Gupta M. Opioid Use Disorder. [Updated 2021 Jul 12]. In: StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2021 Jan-. Available from: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK553166/
4: P Goddu A, O'Conor KJ, Lanzkron S, Saheed MO, Saha S, Peek ME, Haywood C Jr, Beach MC. Do Words Matter? Stigmatizing Language and the Transmission of Bias in the Medical Record. J Gen Intern Med. 2018 May;33(5):685-691. doi: 10.1007/s11606-017-4289-2. Epub 2018 Jan 26. Erratum in: J Gen Intern Med. 2019 Jan;34(1):164. PMID: 29374357; PMCID: PMC5910343.
5: Stuart H. Reducing the stigma of mental illness. Glob Ment Health (Camb). 2016 May 10;3:e17. doi: 10.1017/gmh.2016.11. PMID: 28596886; PMCID: PMC5314742.
6: Mehta N, Clement S, Marcus E, Stona AC, Bezborodovs N, Evans-Lacko S, Palacios J, Docherty M, Barley E, Rose D, Koschorke M, Shidhaye R, Henderson C, Thornicroft G. Evidence for effective interventions to reduce mental health-related stigma and discrimination in the medium and long term: systematic review. Br J Psychiatry. 2015 Nov;207(5):377-84. doi: 10.1192/bjp.bp.114.151944. PMID: 26527664; PMCID: PMC4629070.